Festschrift von Hubert Molls, im Oktober 1978
Johann Valentin Andreae, der Namenspatron des neuen Gymnasiums, zählt neben Heinrich und Wilhelm Schickhardt zu den großen Söhnen der Stadt Herrenberg. Er verfügte wie Wilhelm Schickhardt über eine reiche und vielseitige, nicht nur auf die Geisteswissenschaften ausgerichtete Begabung.
Am 17.8.1586 wurde Johann Valentin Andreae als fünftes von sieben Kindern des Herrenberger Dekans und späteren Abts von Königsbronn Johann Andreae in Herrenberg geboren. Sein Großvater war der berühmte Kanzler der Tübinger Universität Jakob Andreae. Seine Mutter war die Tochter des Herrenberger Vogts Moser.
Schon mit fünf Jahren verließ Johann Valentin seine Heimatstadt Herrenberg, weil sein Vater Abt in Königsbronn bei Heidenheim geworden war. Als dieser früh starb (1601), zog die Mutter mit ihren Kindern nach Tübingen, und der fünfzehnjährige Johann Valentin begann mit dem Studium der Theologie, damals die Mutter der Wissenschaften. An sechs Jahre eifriger wissenschaftlicher Arbeit reihten sich weitere Jahre, in denen er durch Reisen nach Frankreich, Italien, in die Schweiz und nach Österreich seinen Gesichtskreis erweiterte, wertvolle Freundschaften schloß und für sein späteres Amt reiche Erfahrungen sammelte. Schon als Student war Andreae schriftstellerisch tätig, beschäftigte sich eingehend mit Bildungsfragen und sammelte einen Kreis von gleichgesinnten Freunden um sich. Zu diesem Kreis zählte auch Wilhelm Schickhardt.
Nach bestandenem Examen trat er 1614 nach mehreren vergeblichen Versuchen in den Dienst der Kirche und wurde Diakon in Vaihingen/Enz. Im gleichen Jahr heiratete er die Pfarrerstochter Agnes Elisabeth Grüninger. Von den neun Kindern dieser Ehe sind nur drei groß geworden.
In Vaihingen entfaltete Andreae eine reiche seelsorgerliche und schriftstellerische Tätigkeit. Von seinen insgesamt hundert Schriften hat er etwa vierzig in dieser Zeit verfaßt. In diesen Schriften, vor allem in der „Beschreibung der Christenstadt“, legt Andreae ein universales Reformprogramm für die von ihm heftig kritisierte Gesellschaft, den Staat und die Kirche seiner Zeit vor. Auf dem Gebiet der Bildung versuchte er das damals beginnende Auseinanderfallen der Einzelwissenschaften zu verhindern sowie die damaligen Bildungsinhalte um die modernen Fremdsprachen, die neuaufkommenden Naturwissenschaften, historisch-politische Kenntnisse und sogar Leibesübungen zu erweitern. Zu dieser vorwiegend intellektuellen Bildung mußte aber die Charakterbildung (bei Andreae „pietas“ genannt) hinzukommen. Sie nimmt in seinem ganzheitlichen Bildungsideal sogar eine zentrale Stellung ein. Die Weisheit trägt der „pietas“ die Schleppe nach, läßt er seinen väterlichen Freund Matthias Hafenreffer einmal formulieren. Der Kirchenhistoriker Martin Brecht*) charakterisiert das Werk Andreaes treffend mit den Worten: „Die Dimensionen des reformerischen Wollens sind fast unwirklich, fast noch einmal mittelalterlich universal und doch ausgesprochen zeitgemäß, modern wirklichkeitsgesäftigt.“
1620 wurde Andreae Dekan in Calw, wo er 1628 das „Färberstift“, eine Art Vorläufer der „Inneren Mission“ gründete, um Notleidenden und Bedürftigen und deren gab es im 30-jährigen Krieg viele – zu helfen und die Jugend durch vom „Färberstift“ bezahlte Lehrer und beschaffte Bücher zu bilden und zu erziehen.
1639 berief ihn Herzog Eberhard 111. auf die Stelle des Oberhofpredigers und Konsistorialrates nach Stuttgart und damit in das höchste Amt der württembergischen Landeskirche. Da das Schulwesen damals der Kirche unterstand, beschäftigte sich Andreae noch eingehender als bisher mit pädagogischen Fragen und Problemen und verfaßte – beeinflußt von dem berühmten Pädagogen Commenius – mehrere pädagogische Schriften und Lehrbücher, die es damals so gut wie nicht gab. 1648 wurde auf seine Initiative hin in Württemberg ein Jahrhundert früher als in den anderen deutschen Ländern die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Der Bildungskanon des Gymnasiums wurde zu Lasten der alten Sprachen um die neueren Sprachen, die Naturwissenschaften, die er in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Schickhardt als „edle Wissenschaft“ bezeichnet, und sogar Leibesübungen und Körperpflege erweitert.
Sechs Briefe Andreaes an Wilhelm Schickhardt sind uns erhalten. In diesen Briefen bezeichnet Andreae Schickhardt als Bruder und Freund. Auf diese Weise wird die Verbundenheit des Andreae-Gymnasiums als Tochter-Gymnasium mit dem Schickhardt-Gymnasium symbolhaft deutlich. In einem dieser Briefe erklärt Andreae übrigens seinen etwas eigenartig anmutenden Namen als Genitiv der latinisierten Form des Namen Endriss.
Andreae hatte keinen sonnigen Lebensabend. 1650 trat er von seinem Kirchenamt zurück. Offenbar musste er erkennen, daß seine umfassende Reform von Wissenschaft, Kirche und Staat nicht durchzusetzen war. Von Krankheiten geschwächt, verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens als Prälat bzw. Abt in Bebenhausen (1650) und Adelberg (1654). Am 27.6.1654 starb er in Stuttgart im Alter von nicht ganz 68 Jahren.
*) Martin Brecht, Johann Valentin Andreae, Weg und Programm eines Reformers zwischen Reformation und Moderne. In: Theologen und Theologie an der Universität Tübingen, Contubernium Nr. 15, 1977, Seite 342.