Güllen ist eine sterbende Stadt. Die Bewohner vegetieren und krepieren, halten sich mit Arbeitslosenunterstützung am Leben und lassen anschreiben, wenn sie einkaufen. Selbst Züge halten kaum noch in dem einstigen Ort von Weltbedeutung, und das einzige Vergnügen der Bürger (Theresa Hauber, Lioba Schulte, Clara Merz, Sarah Bentele) ist es, diesen vorbeirasenden Zügen nachzuschauen. Dann aber kommt Leben in die Stadt, kündigt sich doch hoher Besuch an: Die Milliardärin Claire Zachanassian (Fè Krischke), einstmals Klara Wäscher, kehrt in ihre verarmte Heimatstadt zurück, die sie seit Jahrzehnten nicht mehr betreten hat. Als sie 17 Jahre alt war, hat Alfred Ill (I-L-L) sie geschwängert und Zeugen bestochen, die in seinem Sinne falsch aussagten, sodass er die Vaterschaft nicht anerkennen musste. Claire Zachanassian verließ aufgrund dessen in Schande das Dorf, ihr Kind starb nach einem Monat. Danach heiratete sie sich reich, und nun kehrt sie mit dem Gatten VII (Fabian Einicke), dem im Verlaufe des Stücks noch zwei weitere folgen sollen, nach Güllen zurück mit einem schockierenden Angebot im Gepäck. Sie bietet völlig emotionslos Stadt und Bürgern eine Milliarde für einen Mord, der die Gerechtigkeit wieder herstellen soll: Alfred Ill (Lena Tschaffler), inzwischen Familienvater und aussichtsreicher Bürgermeisterkandidat, muss getötet werden.
Was als scheinbar absurde Forderung beginnt, entwickelt sich bald zu einem Psychokrimi. Ill, dem zunächst von allen Seiten Solidarität zugesichert worden ist, bemerkt, wie die Bürger, die Verwaltung und die Institutionen zunehmend beginnen, Geld auszugeben, mit dem sie offenbar in naher Zukunft rechnen. Die Bürger kaufen neue Schuhe und teurere Lebensmittel, die Bürgermeisterin (Matthea Gaiser) trägt neue Kleidung und plant den AGH-Neubau, der Pfarrer (Anjali Chatterjee) hat eine neue Glocke für die Kirche gekauft, im Mund des Polizisten (Sofia Radde) glänzt ein neuer Goldzahn, selbst Ills Frau (Albina Morina) trägt einen neuen Pelzmantel, die Tochter (Emily Fischer) nimmt Tennisstunden und der Sohn (Cathleen Schefenacker) erwirbt ein neues Auto. Der Lehrer (Melissa Kraeft) predigt humanistische Werte, ist sich dabei aber seiner Heuchelei bewusst und ertränkt seine eigene Feigheit, für seine Ideale einzustehen, in „Kleinem Feigling“. Mit den Bewohnern verändert sich die Stadt: Überall wird renoviert, dekoriert und verschönert.
Der verzweifelte Ill wird sich zunehmend der Aussichtslosigkeit seiner Lage bewusst und unternimmt einen Fluchtversuch, den er jedoch nicht vollendet, weil er weiß, dass er seinem Schicksal nicht wird entkommen können. Dennoch fehlt bei ihm von Reue über sein damaliges Fehlverhalten fast jede Spur, weshalb die Güllener sich ihm moralisch immer überlegener fühlen. Und so kommt es zum Äußersten: Auf einer Bürgerversammlung in Anwesenheit der Presse (Emily Kaffee, Oleksandr Crijanovschi), live kommentiert von einer Radiosprecherin (Lina Roth), votiert man einstimmig für die Ermordung Ills, der nicht anders kann, als das Urteil anzunehmen, und der noch vor Ort ermordet wird – nicht von einem Einzelnen, sondern von allen Bürgern der Stadt gemeinsam.
Claire Zachanassian ist somit gerächt; sie überreicht den Scheck, steigt mit ihrem Gefolge (u.a. Lola Drenker, Michelle Shorin) sowie den sterblichen Überresten Ills in den Zug und kehrt der Stadt versteinert und völlig emotionslos für immer den Rücken. Zurück bleiben die Güllener in ihrer nun wohlhabenden, ansehnlichen Stadt. Sie, die anfangs Humanismus und Solidarität beschworen haben, aber für Geld gemeinschaftlich zu Verbrechern geworden sind, fühlen sich moralisch im Recht. Im Chor bitten sie Gott darum, ihren Wohlstand, den Frieden und die Freiheit in der neuerstandenen, prächtigen Stadt zu bewahren, damit sie „das Glück glücklich genießen“ können.
Nach der großartigen Inszenierung unter der Regie von Judith Bentele und Michael Schulte, die Elemente der Komödie und der klassischen Tragödie vereinte, blieben viele Fragen offen:
- Wer ist moralisch wirklich im Recht?
- Kann man moralisch richtig handeln, auch wenn man dabei ein Verbrechen begehen und seine Prinzipien verraten muss?
- Ist vergangenes Unrecht durch neues Unrecht wiedergutzumachen?
- Was sind wir für Geld bereit zu tun? Ist das Streben nach Reichtum immer mit moralischem Verfall verbunden?
- Kann man es sich in der Not Prinzipien leisten?
- Wozu kann Armut einen Menschen bringen, und welche Verantwortung haben wir deshalb für die Schwachen in unserer Gesellschaft?
- Wer trägt die Verantwortung für den Mord an Ill – die Dorfbewohner oder Claire Zachanassian?
- Handelt es sich bei dem, was geschehen ist, um Rache oder Gerechtigkeit? Kann es in diesem Fall überhaupt Gerechtigkeit geben?
- Inwieweit sind die Figuren ihrem Schicksal ausgeliefert? Hatten die Güllener eine Wahl? Hätte Ill sich selbst retten können, indem er im Nachhinein seine Schuld eingesteht und Verantwortung übernimmt?
Ill beantwortet einige dieser Fragen für sich selbst und das Publikum. Nachdem ihm vor seiner Hinrichtung der Pfarrer hilflos ankündigt, dass er für ihn beten werde, sind seine letzten Worte: „Beten Sie für Güllen“. Güllen – das könnten wir alle sein.































